Alfeld. Während in den Wahllokalen noch die letzten Stimmen für das zukünftige Europaparlament abgegeben wurden, brachten die Stimmen der Kirchenkreiskantorei in der St. Nicolai-Kirche Alfeld eines der Hauptwerke europäischer Kultur zum Klingen. Kirchenkreiskantorin Christina Kothen hatte dabei auf den ersten Teil mit Ouvertüre und dem Weihnachtsgeschehen verzichtet und begann gleich mit der Passion. Dazu wählte sie als passende Ouvertüre den dunkel und schwermütig klingenden ersten Satz aus Händels Concerto grosso g-moll op. 6/6. Damit war die Atmosphäre bereitet, in die hinein der Chor seine mitleidsvolle Klage „Behold the Lamb-Seht an das Gotteslamm“ singen konnte.
Schon diese ersten Takte ließen erkennen, mit welcher Sorgfalt die Kantorei auf das Konzert vorbereitet wurde. Die sprachlich gut ausgearbeitete Artikulation ließen fast jedes Wort des Englisch gesungen Werkes verstehen. Der Chorklang zeugte von intensiver Stimmbildungsarbeit, wobei besonders die Soprane durch klare und gut geführte Höhe auffielen. Und es war eine Freude, wie aufmerksam der Chor seine Dirigentin anschaute und ihr auf diese Weise stets gut folgen konnte.
Die Kantorin wählte durchweg lebendige Tempi und hielt den Ablauf in fester Hand. So entwickelte sich ein fast durchweg frischer Chorklang, der auch bei den meisten Koloraturen präsent war. Dieser positive Eindruck hielt sich bis zum letzten Takt des Werkes mit seiner weit ausschwingenden Amen-Fuge. Das Konzert beherrschte ein fast durchweg prächtig gesungener kraftvoller Chorklang. Die Kirchenkreiskantorin konnte hier Früchte einer erfolgreichen Kirchenkreisarbeit ernten.
Dabei wird nicht ausschließlich musikalische Arbeit geleistet. Wenn sich Sängerinnen und Sänger Woche für Woche mit einem geistlichen Werk, wie Händels „The Messiah“ beschäftigen, dann kommen sie über die Musik unweigerlich auch zum Inhalt des Oratoriums. Und das erweist sich als eine Quelle vieler theologischer Gedanken. Denn hier wird das Christusgeschehen in einer aufschlussreichen Zusammenstellung von Bibelworten und Texten aus der englischen King-James-Bibel und des Book of Common Prayer dargestellt. So wird Kantoreiarbeit im besten Sinn des Wortes zur Gemeindearbeit. Eine Aufbauarbeit, deren Wichtigkeit sich eben auch hier im Alfelder Konzert erneut gezeigt hat.
Christina Kothen hatte ein Solistenquartett verpflichtet, dass auf unterschiedliche Weise agierte. Die Sopranistin Johanna Neß machte mit klar sitzender Stimme ihre Arien zu Höhepunkten des Konzertes. Besonders die vom österlichen Auferstehungsglauben durchwehte Arie „I know that my redeemer liveth - Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ erfüllte sie mit beseelter Innigkeit, die unmittelbar berührte. Mareike Bielenberg bringt eine warm intonierende Altstimme mit und formte zum Beispiel die Passionsarie „He was despised - Er ward verachtet“ zu einer ergreifenden Begegnung mit dem leidenden Jesus. Auch die beiden Männerstimmen Nils-Rune Kothen und Christoph Biermann gestalteten ihre Partien mit vortrefflichem, dem Text entsprechenden Ausdruck.
Tragende Basis des Konzertes war das Orchester „Sion di corda“. Ein erfreulicher Reichtum an Artikulation und Dynamik zeugte von viel Kenntnis historisch informierter Aufführungspraxis. Mit sichtbarer Spielfreude und produktiver Kommunikation untereinander begleitete und stützte das Ensemble die Dirigentin, den Chor und die Solisten.
Dieses Konzert zeigte erneut, dass die Alfelder Region eine lebendige Kulturlandschaft ist. Und dass die evangelische Kirchenmusik dabei mit ihrer Stimme eine wichtige Rolle spielt, - auch dann, wenn die Europawahl nun schon wieder Geschichte ist.
Viel Beifall für ein großes musikalisches Ereignis in der Leinestadt. Und das zu Recht. Claus-Ulrich Heinke.